Lieber Genosse! Ich beende diese Aufzeichnungen auf der Reise durch Afrika bewegt von dem Wunsch, mein Versprechen - wenn auch verspätet - zu erfüllen. Dies möchte ich mit Ausführungen zu dem Thema leisten, das durch die Überschrift gekennzeichnet ist. Ich glaube, daß das für die uruguayischen Leser interessant sein könnte. Als Argument im ideologischen Kampf gegen den Sozialismus hört man häufig aus dem Mund kapitalistischer Sprecher die Behauptung, dieses Gesellschaftssystem oder die Periode des Aufbaus des Sozialismus, in der wir uns befinden, werde durch die Opferung des Individuums auf den Altären des Staates gekennzeichnet. Ich beabsichtige nicht, diese Behauptung auf einer rein theoretischen Ebene zu widerlegen, sondern möchte die Tatsachen so darstellen, wie sie in Kuba erlebt werden, und einige Bemerkungen allgemeiner Art hinzufügen. Zuerst werde ich in groben Zügen die Geschichte unseres revolutionären Kampfes vor und nach der Übernahme der Macht umreißen. Bekanntlich begannen die revolutionären Aktionen, die dann am 1. Januar 1959 ihren Höhepunkt erreichten, genau am 26. Juli 1953. Eine Gruppe von Männern unter der Leitung Fidel Castros griff im Morgengrauen dieses Tages die Moncada-Kaserne in der Provinz Oriente an. Der Angriff war ein Mißerfolg. Die Niederlage verwandelte sich in eine Katastrophe, die Überlebenden landeten im Gefängnis, um - kurz nach der Amnestie - den revolutionären Kampf von neuem aufzunehmen. Während dieses Entwicklungsprozesses, in dem es lediglich Ansätze für eine sozialistische Entwicklung gab, war der Mensch ein grundlegender Faktor. Ihm vertraute man, dem vereinzelten, spezifischen, mit Namen und Vornamen gekennzeichneten Menschen, von seiner Fähigkeit zur Aktion hingen Erfolg oder Mißerfolg der ihm anvertrauten Aufgabe ab. Es
begann der Guerilla-Kampf, der sich in zwei unterschiedlichen Bereichen
entwickelte: im Volk, der noch unerweckten Masse, und in seiner Vorhut,
der Guerilla, dem treibenden Motor der Mobilisierung und Generator des
revolutionären Bewußtseins und der kämpferischen Begeisterung.
Diese Vorhut war der Katalysator, der die subjektiven Bedingungen schuf,
die für den Sieg notwendig waren. Auch in der Vorhut, im Rahmen des
Proletarisierungsprozesses und der Revolution unseres Denkens sowie unserer
Gewohnheiten war das Individuum der wichtigste Faktor. Jeder der Kämpfer
aus der Sierra Maestra, der in den revolutionären Streitkräften
einen höheren Rang erreichte, verzeichnet auf seiner Haben-Seite eine
Anzahl beachtenswerter Taten. Auf dieser Grundlage erreichte er seinen
Rang.
Damit erschien in der kubanischen Revolution bereits in klaren Umrissen ein Faktor, der systematisch immer wieder auftreten wird: die Massen. Dieses vielschichtige Wesen ist nicht, wie behauptet wird, die Summe von Elementen ein und derselben Kategorie (und durch das auferlegte System- auf eine einzige Kategorie reduziert), die wie eine zahme Herde handeln. Es ist wahr, daß die Masse ohne Zögern ihrer Führung - vor allem Fidel Castro - folgt, doch das Vertrauen, das dieser sich erwarb, ist die Folge der umfassenden Interpretation der Wünsche und Sehnsüchte des Volkes und des ehrlichen Kampfes für die Erfüllung der abgegebenen Versprechen. Die Massen beteiligten sich an der Agrarreform und an der schwierigen Aufgabe der Leitung der staatlichen Unternehmen, die über die heroische Erfahrung der Schweinebucht und die Stärkung im Kampf gegen die von der CIA bewaffneten Banden führte und in der Oktoberkrise eine der wichtigsten Augenblicke erlebte; sie setzen nun ihre Arbeit beim Aufbau des Sozialismus fort. Oberflächlich
gesehen könnte der Eindruck entstehen, als hätten jene recht,
die von der Unterwerfung des Individuums unter den Staat sprechen. Die
Massen verwirklichen mit Begeisterung und Disziplin ohnegleichen die von
der Regierung festgelegten Aufgaben, seien sie nun wirtschaftlicher, kultureller,
verteidigungstechnischer, sportlicher oder anderer Art. Die Initiative
geht im allgemeinen von Fidel oder von der Leitung der Revolution aus und
wird dem Volk erklärt, das sie dann als seine eigene aufgreift. Bisweilen
werden von der Partei und der Regierung auch örtliche Erfahrungen
aufgegriffen, die dann ebenso verallgemeinert werden.
Offensichtlich ist dieses Verfahren nicht ausreichend, um eine Abfolge vernünftiger Entscheidungen zu sichern, es fehlt eine besser strukturierte Verbindung zu den Massen. Das müssen wir im Verlauf der nächsten Jahre verbessern, aber im Fall der Initiativen, die in höchsten Regierungskreisen entstehen, wenden wir jetzt die fast intuitive Methode an, die allgemeine Reaktion gegenüber den dargestellten Problemen abzuhören. Meister darin ist Fidel, dessen besondere Art, mit dem Volk eins zu werden, man nur würdigen kann, wenn man ihn dabei einmal erlebt hat. Bei den großen öffentlichen Veranstaltungen bemerkt man so etwas wie den Dialog zwischen zwei Stimmgabeln, deren Schwingungen bei dem Gesprächspartner neue Schwingungen hervorrufen. Fidel und die Massen beginnen, in einem Dialog von wachsender Intensität zu schwingen, dessen Höhepunkt in einem abrupten Finale endet und durch unseren Kampf- und Siegesruf gekrönt wird. Das schwer zu Begreifende für denjenigen, der diese Erfahrung der Revolution nicht gemacht hat, ist die feste dialektische Einheit zwischen dem Individuum und den Massen, innerhalb derer einerseits beide in Wechselwirkung miteinander und die Massen andererseits als Gesamtheit der Individuen in Wechselbeziehung zu ihrer Führung stehen. Im
Kapitalismus lassen sich ähnliche Erscheinungen beobachten, wenn nämlich
Politiker auftreten, die die Fähigkeit besitzen, das Volk zu mobilisieren;
aber sofern es sich nicht um eine tatsächliche Volksbewegung handelt
und in einem solchen Fall wird man nicht von Kapitalismus sprechen können
-, wird die Bewegung nur so lange dauern wie das Leben dessen, der sie
vorantreibt, oder bis die Illusionen des Volkes unter den Zwängen
der kapitalistischen Gesellschaft verfliegen. Im Kapitalismus wird der
Mensch von einer kalten Ordnung gelenkt, die sich gewöhnlich seinem
Verständnis entzieht. Das entfremdete Individuum ist mit der Gesellschaft
durch eine unsichtbare Nabelschnur verbunden: das Wertgesetz. Dieses greift
in sämtliche Bereiche seines Lebens ein und prägt seinen Weg
sowie sein Schicksal.
Das Elend, das notwendigerweise akkumuliert werden muß, damit ein solches Paradebeispiel auftreten kann, und die Summe der Niederträchtigkeiten, auf der ein Vermögen dieser Größenordnung beruht, erscheinen nicht in dem Gemälde, und nicht immer ist es den Volkskräften möglich, diese Hintergründe auch aufzudecken. (An dieser Stelle könnte man noch darauf eingehen, wie die Arbeiter in den imperialistischen Ländern mehr und mehr ihr internationalistisches Klassenbewußtsein unter dem Einfluß einer gewissen Komplizenschaft an der Ausbeutung der abhängigen Länder verlieren, und wie dies den Kampfgeist der Massen im eigenen Land untergräbt, aber das ist ein Thema, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.) Jedenfalls
erweist sich dieser Weg zum Erfolg, als ein Weg voller Hindernisse, die
ein Individuum mit den notwendigen Eigenschaften anscheinend überwinden
kann, um sein Ziel zu erreichen. Die Belohnung schimmert in der Ferne,
der Weg ist einsam. Außerdem ist es wie ein Rennen der Wölfe,
denn man gelangt nur über das Scheitern der anderen zum Erfolg.
Ich glaube, es ist am einfachsten, seine Unfertigkeit, d. h. unvollkommenes Produkt zu sein, als Eigenschaft anzuerkennen. Die Spuren der Vergangenheit schlagen sich gegenwärtig im individuellen Bewußtsein nieder, und es bedarf einer unablässigen Arbeit, sie auszulöschen. Dieser Vorgang hat zwei Seiten, denn einerseits wirkt die Gesellschaft durch die unmittelbare und mittelbare Erziehung, auf der anderen Seite unterwirft sich das Individuum einer bewußten Selbsterziehung. Die sich herausbildende neue Gesellschaft steht mit der Vergangenheit in einem scharfen Wettbewerb. Das macht sich nicht nur im individuellen Bewußtsein bemerkbar, auf dem die Überbleibsel einer systematisch auf die Isolierung des Individuums ausgerichteten Erziehung lasten, sondern auch im Charakter dieser Übergangsperiode selbst, in der die Warenbeziehungen noch fortbestehen. Die Ware ist der ökonomische Kern der kapitalistischen Gesellschaft; solange sie besteht, werden sich ihre Auswirkungen in der Produktion und deshalb auch im Bewußtsein niederschlagen. In
der Marx'schen Theorie wurde die Übergangsphase als Ergebnis der explosiven
Umwälzungen des durch innere Widersprüche zerrissenen Kapitalismus
aufgefaßt. In der späteren Wirklichkeit sah man, wie sich vom
imperialistischen Stamm einige Länder lösten, die seine schwachen
Äste bilden - ein von Lenin vorhergesehenes Phänomen.
Doch man läuft die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Dem Hirngespinst nachsagend, den Sozialismus mit den morschen Waffen verwirklichen zu können, die uns der Kapitalismus hinterlassen hat (die Ware als ökonomischer Kern, die Rentabilität, das individuelle materielle Interesse als Ansatzpunkt usw.), kann man in einer Sackgasse landen. Und man landet in ihr, nachdem man eine lange Strecke zurückgelegt hat, auf der sich die zurückgelegten Wege mehrmals kreuzen und es schwerfällt, den Augenblick zu erkennen, da man sich in der Richtung irrte. In der Zwischenzeit hat diese ökonomische Basis ihre Wühlarbeit in der Entwicklung des Bewußtseins vollbracht. Um den Kommunismus aufzubauen, müssen wir mit der materiellen Basis gleichzeitig den neuen Menschen schaffen. Daher ist es so wichtig, den richtigen Ansatz für die Mobilisierung der Massen zu wählen. Dieser Ansatz muß grundsätzlich moralischer Art sein, ohne den richtigen Einsatz des materiellen Anreizes, vor allem gesellschaftlicher Art, außer acht zu lassen. Wie bereits gesagt, fällt es im Augenblick höchster Gefahr leicht, die moralischen Anreize zu potenzieren. Doch um sie aufrechterhalten zu können, ist es notwendig, ein Bewußtsein zu entwickeln, in dem die Werte neue Inhalte erhalten. Die Gesellschaft muß sich in ihrer Gesamtheit in eine riesige Schule verwandeln. In
groben Zügen entspricht diese Erscheinung dem Prozeß der Herausbildung
des kapitalistischen Bewußtseins in seiner ersten Etappe. Der Kapitalismus
greift zur Gewalt, aber darüber hinaus erzieht er die Menschen innerhalb
des Systems. Die direkte Propaganda wird von denen betrieben, die beauftragt
sind, die Unvermeidlichkeit der Klassenherrschaft zu predigen, sei diese
nun göttlichen Ursprungs oder von der Natur in einer mechanistischen
Weise aufgezwungen. Das lähmt die Massen, die sich von einem Übel
unterdrückt sehen, gegen das kein Kampf möglich ist.
Für einige bleibt dabei die Kastenformel weiterhin gültig: Die Belohnung für den Gehorsamen besteht im Eingehen in eine wunderbare Welt nach dem Tode, in der die Guten belohnt und die alten Traditionen fortgesetzt werden. Für
andere gilt die Neuerung: Die Trennung in Klassen ist unabwendbar, aber
einzelne Individuen können sich aus ihrer Klasse durch Arbeit, Initiative
usw. lösen. Dieser Prozeß sowie die Selbsterziehung auf den
Erfolg hin, muß durch und durch heuchlerisch sein: Es ist die eigennützige
Bestätigung, daß die Lüge Wahrheit ist.
Aber dies ist ein bewußter Prozeß: Auf das Individuum wirkt ständig die neue soziale Macht ein; es merkt, daß es ihr noch nicht ganz entspricht. Unter dem Einfluß der Auswirkung der unmittelbaren Erziehung versucht das Individuum, sich auf eine Situation einzustellen, die es als gerecht empfindet und deren mangelnde Entwicklung es bisher daran gehindert hat, sich selbst zu entwickeln. Es erzieht sich selbst. In dieser Aufbauphase des Sozialismus können wir miterleben, wie der neue Mensch entsteht. Sein Bild ist noch nicht vollständig, das könnte auch nie der Fall sein, da dieser Prozeß parallel zum Prozeß der Herausbildung neuer ökonomischer Formen verläuft. Abgesehen von denen, die mangelnde Erziehung auf den Weg des Einzelgängers und zur selbstsüchtigen Befriedigung ihrer Ambitionen treibt, gibt es auch noch die anderen, die selbst beim gemeinsamen Voranschreiten dazu neigen, sich von den Massen zu isolieren, die sie leiten. Entscheidend ist jedoch, daß die Menschen jeden Tag ein tieferes Bewußtsein von der Notwendigkeit ihrer Eingliederung in die Gesellschaft und zugleich von ihrer eigenen Bedeutung als Triebkraft der Gesellschaft erlangen. Sie
gehen nicht mehr einsam auf Irrwegen fernen Sehnsüchten entgegen.
Sie folgen ihrer Vorhut, die aus der Partei und den fortschrittlichen Arbeitern
besteht, aus den fortschrittlichen Menschen, die eng mit den Massen verbunden
voranschreiten. Die Vorhut hat ihren Blick auf die Zukunft und auf ihre
Belohnung gerichtet, doch das zeichnet sich nicht individuell ab. Die Belohnung
ist die neue Gesellschaft, in der die Menschen andere Züge haben werden:
die Gesellschaft des kommunistischen Menschen.
Trotz der Bedeutung, die den moralischen Anreizen zugemessen wird, zeigt die Trennung in zwei Hauptgruppen (ausgenommen natürlich die kleine Minderheit, die aus dem einen oder anderen Grund nicht am Aufbau des Sozialismus teilnimmt) die noch relativ unzureichende Entwicklung gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Vorhut ist ideologisch weiter fortgeschritten als die Massen; diese kennen zwar die neuen Werte, aber sie kennen sie nur unzulänglich. Während sich bei den erstgenannten eine qualitative Veränderung vollzieht, die es ihnen ermöglicht, sich in ihrer Funktion als Vorhut aufzuopfern, kommen die anderen nur teilweise voran und müssen Ansporn und Druck von einiger Stärke erfahren; es ist die Diktatur des Proletariats, die nicht nur über die besiegte Klasse ausgeübt wird, sondern auch über einzelne aus der siegenden Klasse. All
dies macht für einen Erfolg eine Reihe von Mechanismen notwendig:
die revolutionären Institutionen. Die Idee der Institutionalisierung
gehört zum Bild der Volksmassen, die der Zukunft als ein harmonisches
Ganzes aus Kanälen, Stufen, Staudämmen und gut geölten Apparaten
entgegenmarschieren. Sie ermöglichen diesen Vormarsch, sie gestatten
eine natürliche Auslese derer, die dazu bestimmt sind, in der Vorhut
voranzuschreiten, sie verteilen Belohnung oder Strafe an jene, die der
im Aufbau befindlichen Gesellschaft dienen oder gegen sie arbeiten.
Ungeachtet des Mangels an Institutionen, der stufenweise überwunden werden muß, wird die Geschichte heute von den Massen als einer bewußten Gesamtheit von Individuen, die für die gleiche Sache kämpfen, gemacht. Der Mensch ist im Sozialismus trotz seiner scheinbaren Vereinheitlichkeit vollkommener; obwohl die perfekten Vorgehensweisen dazu noch fehlen, ist seine Möglichkeit, sich zu äußern und im gesellschaftlichen Kontext bemerkbar zu machen, unendlich viel größer. Noch
müssen wir seine bewußte individuelle und kollektive Beteiligung
an allen Führungs- und Produktionsmechanismen verstärken und
sie mit der Idee der Notwendigkeit der technischen und ideologischen Bildung
verbinden, damit er spürt, wie eng diese Prozesse miteinander verknüpft
und wie sehr ihr Fortschritt miteinander gekoppelt ist. Damit wird er zum
vollen Bewußtsein seines gesellschaftlichen Seins gelangen, was seiner
vollständigen Verwirklichung als menschliches Wesen entspricht, wenn
erst einmal die Ketten der Entfremdung zerbrochen sind.
Damit er sich in seiner menschlichen Eigenschaft entwikkeln kann, muß die Arbeit einen neuen Charakter erhalten; die Ware Mensch hört auf zu existieren, und es bildet sich ein System heraus, in dem die Erfüllung der gesellschaftlichen Pflicht belohnt wird. Die Produktionsmittel gehören der Gesellschaft, die Maschine ist lediglich der Schützengraben, in dem man seine Pflicht erfüllt. Der Mensch beginnt sein Denken von der ärgerlichen, ihm durch Notwendigkeit aufgezwungene Tatsache zu befreien, vermittels der Arbeit seine animalischen Bedürfnisse befriedigen zu müssen. Er beginnt, sich in seinem Werk wiederzuerkennen und seine menschliche Größe durch den geschaffenen Gegenstand, durch die geleistete Arbeit zu begreifen. Dies schließt nicht mehr ein, daß er einen Teil seines Seins als verkaufte Arbeitskraft, die ihm nicht mehr gehört, zurückläßt, sondern bedeutet eine Äußerung seiner selbst, einen Beitrag zum gemeinsamen Leben, in dem er sich widerspiegelt; es ist die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Pflicht. Wir unternehmen alles nur Mögliche, um der Arbeit diesen neuen Charakter einer gesellschaftlichen Pflicht zu verleihen, sie auf der einen Seite mit der Entwicklung der Technik zu verbinden, die die Möglichkeit größerer Freiheit bietet, und auf der anderen Seite mit der freiwilligen Arbeit; wobei wir uns auf die marxistische Einsicht stützen, daß der Mensch erst dann wirklich Mensch wird, wenn er ohne den Zwang der physischen Notwendigkeit produziert sich als Ware verkaufen zu müssen. Natürlich gibt es auch weiterhin Zwänge in der Arbeit selbst wenn diese freiwillig geleistet wird; der Mensch ha noch nicht alle auf ihn einwirkenden Zwänge in eine bedingten Reflex verwandelt, und er produziert noch in zahlreichen Fällen unter dem Druck der Umgebung (Fidel nennt das den moralischen Zwang). Noch gelingt ihm nicht die völlige geistige Befriedigung durch sein eigenes Schaffen, frei vom unmittelbaren Druck der gesellschaftlichen Umgebung, jedoch in enger Verbindung mit ihr durch die neuen Gewohnheiten. Dies wird der Kommunismus sein. Der Wandel im Bewußtsein vollzieht sich nicht automatisch, genausowenig wie in der Wirtschaft. Die Veränderungen erfolgen langsam und ungleichmäßig, es gibt Perioden der Beschleunigung, der Verlangsamung und auch des Rückschritts. Darüber hinaus müssen wir, wie bereits bemerkt, berücksichtigen, daß wir nicht vor einer reinen Übergangsperiode stehen, wie Marx sie in der "Kritik des Gothaer Programms" voraussah, sondern vor einer neuen, von ihm nicht vorausgesehenen Phase, nämlich der ersten Periode des Übergangs zum Kommunismus, d. h. des Aufbau des Sozialismus. Diese erfolgt inmitten von heftigen Klassenkämpfen und trägt noch Bestandteile des Kapitalismus in sich, die das richtige Verständnis für das Wesen dieser Etappe verdunkeln. Wenn wir dann noch die Scholastik berücksichtigen, die die Entwicklung der marxistischen Philosophie bremste und eine systematische Beschäftigung mit dieser Periode verhinderte, so daß deren Politische Ökonomie sich nicht entfalten konnte, dann müssen wir eingestehen, daß wir vorerst noch in den Kinderschuhen stecken und uns daran machen müssen, alle Grundzüge zu untersuchen, bevor wir eine ökonomische und politische Theorie größerer Tragweite erarbeiten. Die
daraus hervorgehende Theorie wird unweigerlich den beiden Pfeilern des
sozialistischen Aufbaus Vorrang einräumen: der Schaffung des neuen
Menschen und der Entwicklung der Technik. Auf beiden Gebieten bleibt noch
viel zu tun; doch weniger entschuldbar ist der Rückstand im Verständnis
der Technik als Grundlage, weil es hier nicht darum geht, sich blindlings
vorzutasten, sondern wir können ein gutes Stück dem Weg folgen,
den die fortgeschrittenen Länder gebahnt haben. Darum beharrt Fidel
mit so großer Hartnäckigheit auf der Notwendigkeit der technischen
und wissenschaftlichen Ausbildung des ganzen Volkes und insbesondere seiner
Vorhut.
Doch dieses Heilmittel trägt den Keim der gleichen Krankheit in sich: Er ist ein einsames Wesen, das die Vereinigung mit der Natur sucht. Er verteidigt seine durch die Umgebung unterdrückte Individualität und reagiert auf ästhetische Vorstellungen als Einzelwesen, das die Sehnsucht hegt, unbefleckt zu bleiben. Es handelt sich lediglich um einen Fluchtversuch. Das Wertgesetz ist längst nicht nur ein reiner Reflex der Produktionsverhältnisse. Die Monopolkapitalisten umgeben es mit einem komplizierten Gerüst, das es in einen gefügigen Diener verwandelt, obwohl die von ihnen angewandten Methoden rein empirisch sind. Dieser Überbau erzwingt einen Typ von Kunst, für den es die Künstler zu erziehen gilt. Die Rebellen werden vom Apparat niedergeworfen, nur den außergewöhnlichen Talenten gelingt es, etwas Eigenes zu schaffen. Die übrigen werden verschämte Lohnempfänger oder zermalmt. Ein
"Kunstschaffen" wird erfunden, das als Freiheit ausgegeben wird, aber dieses
"Schaffen" hat seine Grenzen, die unsichtbar bleiben, bis man dagegen stößt,
will sagen: bis man auf die realen Probleme des Menschen und seiner Entfremdung
trifft. Sinnlose Angst oder vulgärer Zeitvertreib bilden bequeme Ventile
für die menschliche Unruhe; man bekämpft die Vorstellung, aus
der Kunst eine Waffe der Enthüllung und der Anklage zu machen.
Als die Revolution die Macht übernahm, vollzog sich der Exodus all derer, die völlig domestiziert waren. Die anderen, ob Revolutionäre oder nicht, sahen einen neuen Weg vor sich. Das künstlerische Schaffen erhielt neue Impulse. Die Wege waren jedoch mehr oder weniger abgesteckt, und Flucht versteckte sich hinter dem Begriff Freiheit. Selbst unter Revolutionären hielt sich häufig diese Einstellung, eine Widerspiegelung des bürgerlichen Idealismus im Bewußtsein. In Ländern, die eine ähnliche Entwicklung vollzogen, versuchte man, diese Tendenzen mit übertriebenem Dogmatismus zu bekämpfen. Die allgemeine Kultur wurde fast tabuisiert, und zum Höhepunkt künstlerischen Schaffens erklärte man eine formal exakte Wiedergabe der Natur, was sich dann in eine mechanische Wiedergabe jener gesellschaftlichen Wirklichkeit verwandelte, die man sehen wollte: jene ideale Gesellschaft, fast ohne Konflikte und Widersprüche, die man aufbauen wollte. Der
Sozialismus ist jung und hat Fehler. Uns Revolutionären mangelt es
oft an den nötigen Kenntnissen sowie an der nötigen intellektuellen
Kühnheit, um die Aufgaben anzugehen, einen neuen Menschen mit Methoden
zu entwickeln, die sich von den konventionellen unterscheiden. Die konventionellen
Ansätze leiden unter dem Einfluß der Gesellschaft, die sie hervorgebracht
hat. (Einmal mehr stellt sich die Frage des Verhältnisses von Form
und Inhalt.) Die Desorientierung ist groß, die Probleme des materiellen
Aufbaus nehmen uns völlig in Anspruch. Es gibt keine hoch angesehenen
Künstler, die zugleich über großes Ansehen als Revolutionäre
verfügen. Die Parteimitglieder müssen diese Aufgabe in die Hand
nehmen und das Hauptziel zu erreichen suchen: die Erziehung des Volkes.
Es
mangelt an der Entwicklung eines ideologisch-kulturellen Konzeptes, das
das Suchen ermöglicht und das Unkraut jätet, das sich so leicht
auf dem mit staatlicher Subvention gedüngten Boden vermehrt.
Die breiten Massen entwickeln sich, die neuen Ideen erhalten in der Gesellschaft den entsprechenden Auftrieb, die materiellen Möglichkeiten zur umfassenden Entwicklung aller ihrer Mitglieder gestalten die Arbeit immer fruchtbarer. Die Gegenwart gehört dem Kampf; die Zukunft gehört uns. Zusammenfassend: Die Schuld vieler unserer Intellektuellen und Künstler liegt in ihrer "Ursünde"; sie sind keine echten Revolutionäre. Wir können versuchen, eine Ulme zu propfen, damit sie Birnen trägt; aber gleichzeitig müssen Birnbäume gepflanzt werden. Die neuen Generationen werden frei von dieser "Ursünde" sein. Die Wahrscheinlichkeit, daß außergewöhnliche Künstler auftreten, wird um so größer sein, je weiter sich das Feld der Kultur und die Ausdrucksmöglichkeiten ausdehnen. Unsere Aufgabe besteht darin zu verhindern, daß die gegenwärtige Generation, durch ihre Konflikte entwurzelt, sich selbst und die neuen Generationen pervertiert. Wir dürfen keine Lohnempfänger schaffen, die dem offiziellen Denken hörig sind, und auch keine "Stipendiaten", die unter dem Schutz des Staatshaushaltes leben und ihre Freiheit in Anführungszeichen pflegen. Es werden die Revolutionäre kommen, die das Lied vom neuen Menschen mit der wahren Stimme des Volkes anstimmen. Das ist ein Entwicklungsprozeß, der Zeit braucht. In
unserer Gesellschaft spielen die Jugend und die Partei eine große
Rolle.
Besonders wichtig ist erstere, denn sie ist der Ton, aus dem sich der neue Mensch ohne all seine früheren Mängel formen läßt. Sie erfährt die Behandlung entsprechend unseren Ansprüchen. Ihre Erziehung wird nach und nach vollkommener, und wir vergessen nicht, sie so früh wie möglich an den Arbeitsprozeß heranzuführen. Unsere Stipendiaten leisten in ihren Ferien oder auch neben dem Studium körperliche Arbeit. Die Arbeit ist in gewissen Fällen eine Belohnung, manchmal auch ein Erziehungsmittel, niemals aber eine Strafe. Eine neue Generation entsteht. Die Partei ist eine Vorhut-Organisation. Die besten Arbeiter werden von ihren Kollegen zur Aufnahme vorgeschlagen. Sie ist eine Minderheit, verfügt aber dank der Qualität ihrer Kader über große Autorität. Wir streben danach, daß die Partei zur Massenpartei wird, aber erst wenn die Massen den Entwicklungsstand der Vorhut haben, also wenn sie für den Kommunismus erzogen sind. Auf diese Erziehung ist die Arbeit ausgerichtet. Die Partei ist das lebendige Vorbild, ihre Kader müssen Arbeitseifer und Aufopferung durch ihr Beispiel lehren, sie müssen durch ihr Handeln die Massen an die Erfüllung der revolutionären Aufgaben heranfahren. Das bedeutet langen harten Kampf gegen die Schwierigkeiten des Aufbaus, die Klassenfeinde, die Gebrechen der Vergangenheit, den Imperialismus ... Ich möchte nun die Bedeutung der Persönlichkeit erklären; des Menschen als Individuum und als Führer der Massen, die die Geschichte machen. Das ist unsere Erfahrung und kein Rezept. Fidel verlieh der Revolution in den ersten Jahren den Impuls, gab ihr immer die Richtung, den Ausdruck, aber es gibt eine ansehnliche Gruppe von Revolutionären, die sich im gleichen Sinne entwickeln wie der oberste Anführer, und eine große Masse, die ihrer Führung folgt, weil sie ihr vertraut, und sie vertraut ihr, weil diese es versteht, ihre Wünsche zu interpretieren und aufzunehmen. Es geht nicht darum, wieviel Kilogramm Fleisch man ißt oder wie oft man im Jahr einen Ausflug zum Strand machen kann, und auch nicht darum, wie viele schöne aus dem Ausland importierte Dinge man mit den heutigen Löhnen kaufen kann. Es geht darum, daß das Individuum sich erfüllter fühlt, durch viel größeren inneren Reichtum und viel größere Verantwortung. Der Einzelne in unserem Land weiß, daß die glorreiche Zeit, in der zu leben ihm zufiel, eine Zeit des Opfers ist, denn er weiß Opfer zu bringen. Die ersten lernten es in der Sierra Maestra und wo immer auch gekämpft wurde; später lernten wir es in ganz Kuba. Kuba ist die Vorhut Lateinamerikas und muß Opfer bringen, weil es Vorreiter ist, weil es den Massen Lateinamerikas den Weg zur vollständigen Freiheit weist. Im Land selbst muß die Führung ihre Rolle als Vorhut erfüllen, und in aller Offenheit möchte ich sagen, daß in einer wahren Revolution, für die man alles gibt, von der man keinerlei materielle Vergütung erwartet, die Aufgabe des Revolutionärs in der Vorhut sowohl großartig wie zugleich beklemmend ist. Lassen
Sie mich sagen, auch auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen,
daß der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der
Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen echten Revolutionär
ohne diese Eigenschaft vorzu stellen. Vielleicht liegt hierin eines der
großen Dramen des Führenden: Er muß eine leidenschaftliche
Seele mit einem kühlen Intellekt verbinden und ohne mit der Wimper
zu zucken, schmerzliche Entscheidungen treffen. Unsere Revolutionäre
der Vorhut müssen diese Liebe zum Volk und zu den heiligsten Anliegen
idealisieren und sie einzigartig und unteilbar machen. Sie können
nicht mit einer kleinen Portion täglicher Zuneigung zu den Plätzen
hinuntersteigen, an denen die gewöhnlichen Menschen ihre Gefühle
zeigen. Die Führer der Revolution haben Kinder, die mit ihrem ersten
Gestammel nicht den Vater nennen lernen; Frauen, die ein Teil ihres allgemeinen
Verzichts auf das Leben sein müssen, um die Revolution zu ihrer Bestimmung
zu führen; der Kreis der Freunde ist eng begrenzt auf den Kreis der
Revolutionsgefährten. Es gibt kein Leben außerhalb der Revolution.
Der Revolutionär, ideologischer Motor der Revolution innerhalb seiner Partei, verbraucht sich in dieser unablässigen Aktivität, die erst mit dem Tod endet, es sei denn, der Aufbau ist weltweit erreicht. Wenn sein revolutionären Elan nachläßt, sobald die dringlichsten Aufgaben auf örtlicher Ebene verwirklicht sind, und wenn er den proletarischen Internationalismus vergißt, dann hört die Revolution, die er leitet, auf, eine treibende Kraft zu sein und sinkt in bequeme Schläfrigkeit ab, die von unserem unversöhnlichen Feind, dem Imperialismus, ausgenutzt wird, um an Boden zu gewinnen. Der proletarische Internationalismus ist eine Pflicht, aber auch eine revolutionäre Notwendigkeit. So erziehen wir unser Volk. Natürlich
bergen die gegenwärtigen Umstände Gefahren in sich. Nicht nur
die des Dogmatismus, nicht nur die des Erkaltens der Beziehungen zu den
Massen inmitten der großen Aufgabe; es besteht auch die Gefahr von
Schwächen, denen man verfallen kann. Wenn ein Mensch glaubt, um sein
ganzes Leben der Revolution widmen zu können, dürfe er seinen
Geist nicht mit der Sorge belasten, daß einem seiner Kinder etwas
Bestimmtes fehlt, daß die Schuhe der Kinder abgetragen sind, daß
es seiner Familie an etwas Notwendigem mangelt, dann eröffnet er mit
diesem Gedankengang den Weg für die Keime zukünftiger Korruption.
So schreiten wir voran. An der Spitze der riesigen Kolonne - wir schämen uns dessen nicht, noch haben wir Angst, es auszusprechen - geht Fidel, dann kommen die besten Kader der Partei und unmittelbar dahinter, so nah, daß man die ungeheure Kraft spürt, geht das Volk in seiner Gesamtheit: ein solides Gerüst aus Individuen, die einem gemeinsamen Ziel entgegenschreiten; Einzelpersonen, die ein Bewußtsein erreicht haben von dem, was getan werden muß; Menschen, die kämpfen, um dem Reich der Notwendigkeiten zu entkommen und das der Freiheit zu erreichen. Diese
riesige Menge ordnet sich; ihre Ordnung entspricht ihrem Bewußtsein
von der Notwendigkeit dieser Ordnung, sie ist nicht länger eine zersplitterte
Kraft, spaltbar in Tausende von Bruchteilen und wie die Splitter einer
Granate im Raum herumfliegend, wo jedes Teil in erbittertem Kampf mit seinesgleichen
um jeden Preis eine Position zu erreichen sucht, die ihm einen festen Halt
gibt angesichts einer ungewissen Zukunft.
Alle
und jeder einzelne von uns entrichtet pünktlich seinen Beitrag an
Opfern in dem Bewußtsein, durch die Befriedigung der erfüllten
Pflicht belohnt zu werden, mit allen gemeinsam dem neuen Menschen entgegenzusehen,
der sich am Horizont abzeichnet.
Lassen Sie mich versuchen, einige Schlußfolgerungen zu ziehen:
Das
Gerüst unserer vollen Freiheit steht, es fehlt die fleischliche Substanz
und die Hülle, wir werden sie schaffen.
Unsere
Freiheit und ihre tägliche Verteidigung haben die Farbe des Blutes
und sind voller Opfer.
Unser
Opfer ist bewußt; ein Beitrag, die Freiheit zu bezahlen, die wir
schaffen.
Der
Weg ist lang und zum Teil unbekannt; wir kennen unsere Grenzen. Wir werden
den Menschen des 21. Jahrhunderts hervorbringen: uns selbst.
Wir härten uns im täglichen Handeln, indem wir einen neuen Menschen mit einer neuen Technik schaffen. Die
Persönlichkeit spielt eine Rolle bei der Mobilisierung und bei der
Führung, sofern sie die höchsten Tugenden und Sehnsüchte
des Volkes verkörpert und sich nicht vom Weg entfernt.
Den Weg bahnt die Vorhut, die Besten unter den Guten, die Partei. Der Ton aus dem wir unser Werk formen, ist die Jugend: In sie setzen wir unsere Hoffnung, sie bereiten wir darauf vor, aus unseren Händen die Fahne entgegenzunehmen. Wenn dieser gestammelte Brief einiges verdeutlicht, so hat er seinen Zweck erfüllt. Empfangen
Sie unseren rituellen Gruß, so wie einen Händedruck oder ein
"Ave Maria Purisima":
März
1965
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